Echinocereus: Neues aus der Herbarien-Recherche (1) Wolfgang Blum, Michael Lange, Werner Rischer & Jürgen Rutow Einführung Seit über einem Jahrzehnt arbeiten wir an der Vervollkommnung unseres monografischen Datenmaterials. Seit ca. einem Jahrzehnt sind zahlreiche, abrufbare, digitalisierte Herbarbelege eine große Hilfe wie auch digital verfügbare Kopien seltener botanischer Publikationen. Durch den Abgleich mit unseren bereits publizierten Daten zu den morphologischen Erfassungen und nomenklatorischen Grundlagen gelingt es hin und wieder Diskrepanzen, Defizite oder Falschdarstellungen aufzudecken und zu bereinigen. Ziel ist die einwandfreie Identifizierung der beschriebenen Namen in der Gattung Echinocereus und deren nomenklatorisch korrekte Anwendung auf die natürlichen Taxa. Nur so können auch unbeschriebene Entitäten (Arten, Unterarten, Mutationen, Naturhybriden) zuverlässig identifiziert werden! Und nur wenn die in der Natur aufgefundenen Echinocereen korrekt identifiziert werden können, ist eine wesentliche Grundlage und gleichzeitige Vorbedingung für den Schutz und den Erhalt dieser genetischen Diversität erfüllt. Typologische Problembeschreibung Ein weitreichendes Problem bei der Referenzierung der nomenklatorischen Typen entstand durch den Begriff des „gathering“ in Art. 8.2 des ICN bzw. bei dessen Auslegung. So tauchten bezüglich einiger jüngerer Erstbeschreibungen (z. B. Echinocereus canus und mapimiensis), die zunächst formal und inhaltlich Anerkennung erfahren hatten, Hinweise auf, die rückwirkend zur Invalidität der Typen und damit der Namen führten bzw. noch führen könnten (s.u.). Ein bekanntes Beispiel ist zeitgenössisch im St.-Louis-Code behandelt, jedoch zwischenzeitlich `geheilt´ worden: Echinocereus sanpedroensis Rischer & Raudonat. „Ex. 1. `Echinocereus sanpedroensis´ (Raudonat & Rischer in Echinocereenfreund 8(4): 91–92. 1995) was based on a „holotype” consisting of a complete plant with roots, a detached branch, an entire flower, a flower cut in halves, and two fruits, which according to the label were taken from the same cultivated individual at different times and preserved, in alcohol, in a single jar. This material belongs to more than one gathering and cannot be accepted as a type. Raudonat & Rischer’s name is not validly published ...”Sinngemäße Übersetzung des englischen Textes: „Bsp. 1: „Echinocereus sanpedroensis“ (Raudonat & Rischer in Echinocereenfreund 8(4): 91–92. 1995) beruht auf einem Holotypus bestehend aus einer vollständigen Pflanze mit Wurzeln, einem abgetrennten Spross, einer ganzen Blüte, einem Blütenschnitt in Hälften und zwei Früchten, die entsprechend dem Etikett von der gleichen kultivierten Pflanze zu unterschiedlichen Zeiten entnommen und in Alkohol in einem einzelnen Glas aufbewahrt wurde. Dieses Material gehört zu mehr als einer Aufsammlung und kann nicht als Typ akzeptiert werden. Raudonat & Rischer’s Name ist nicht gültig veröffentlicht ...“ Katherine Challis (KEW) äußert sich dazu wie folgt (an W. Blum in litt. 05.01.2015): “In the case of Echinocereus sanpedroensis (1995), the holotype material was taken from the same plant in cultivation, but at different times (see Article 8.2). So in 2002 they republished the name and restricted the holotype to material collected on a single date. In your case, you could select the sheet as holotype – as long as the material on the sheet is a single gathering, i.e. all collected at the same time. If not, you would have to specify which material on the sheet was the holotype. Likewise, you could select spirit material as holotype – but it must be a single gathering.” In den unten angeführten Erstbeschreibungen könnten ähnliche „Fehler“ bei der Festlegung der Typen unterlaufen sein oder vermutet werden: Es wurden jeweils Körper, Blüte u. Frucht herbarisiert! Diese Verfahrensweise widerspricht Artikel 8.2 des ICN. Allerdings sind sich auch hier nicht alle Spezialisten einig. Urs Eggli versteht unter dem englischen Begriff ,,gathering”, wie er im ICN verwendet wird, die Aufsammlung in der Natur und nicht die Anfertigung des Herbarbeleges. In einer persönlichen Mitteilung an W. Blum (2007 in litt.) schreibt er: „Meiner Meinung nach bezieht sich `gathering´ auf die Aufsammlung in der Natur, während die Herstellung eines Herbarbeleges, also der Akt der `preservation´, davon unabhängig ist. Leider herrscht aber zu diesem Thema unter den Nomenklaturspezialisten keine Einigkeit und nach Ansicht der `Puristen´ sind die unten angeführten Taxa als ungültig zu betrachten.“ Typologische Problembehandlung 1. Korrektur eines Holotypus-Zitats: Der Erstautor definiert den Holotypus seines Echinocereus acifer (Otto ex Salm-Dyck) Jacobi subsp. tubiflorus W. Rischer neu nach den aktuellen Regeln des Artikels 8.2 des ICN 2011. Schon im ICBN 2000 gibt es Änderungen, die es notwendig erscheinen lassen, Echinocereus acifer subsp. tubiflorus neu zu bestimmen. Art. 8.2 verbietet es, zu verschiedenen Zeitpunkten von einer einzigen Pflanze entnommenes Material als Typus festzulegen. Aus der Erstbeschreibung des E. acifer subsp. tubiflorus geht jedoch klar und deutlich hervor, dass es sich bei dem Nasspräparat nicht um Aufsammlungen im Feld handelt, sondern um in Kultur gezogenes Pflanzenmaterial. Körper und Blüte des hinterlegten Materials stammen von einem kultivierten Exemplar, sind also der Holotypus. Die Samenbeere stammt von einem Referenzexemplar, wäre also (nur) ein Paratypus. Deshalb sollte Art. 8.2. hier nicht angewendet werden. Um aber jeder weiteren Diskussion vorzugreifen, wird der Typus von Echinocereus acifer subsp. tubiflorus neu definiert: Holotypus: Mexico, Grenzgebiet Zacatecas/ Durango: Sierra de los Huitcholes, San Juan Capistrano, Ri. 17, cult., W. Rischer, April 1990, [ZSS AX 17983] nur Pflanzenkörper und Blüte. Paratypus: Frucht, AX. Lateindiagnose: Siehe Echinocereus [preprint], [1]. Blum & al. 1998 (repeated in Blum & al. Echinocereus: 353, 1998). 2. Korrektur eines Holotypus-Zitats: Die Erstautoren definieren den Holotypus ihres Echinocereus arizonicus subsp. nigrihoirridispinus W. Blum & J. Rutow neu nach den aktuellen Regeln des Artikels 8.2 des ICN 2011. Schon im ICBN 2000 gibt es Änderungen, die es notwendig erscheinen lassen, Echinocereus arizonicus subsp. nigrihorridispinus neu zu bestimmen. Art. 8.2 verbietet es, zu verschiedenen Zeitpunkten von einer einzigen Pflanze entnommenes Material als Typus festzulegen. Aus der Erstbeschreibung des E. arizonicus subsp. nigrihorridispinus geht jedoch klar und deutlich hervor, dass es sich bei dem Nasspräparat nicht um Aufsammlungen im Feld handelt, sondern um in Kultur gezogenes Pflanzenmaterial. Körper und Blüte des hinterlegten Materials stammen von einer Pflanze, sind also der Holotypus. Die Samenbeere stammt von einem Referenzexemplar, wäre also (nur) ein Paratypus. Deshalb sollte Art. 8.2. hier nicht angewendet werden. Um aber jeder weiteren Diskussion vorzugreifen, wird der Typus von Echinocereus arizonicus subsp. nigrihorridispinus neu definiert: Holotypus: USA: New Mexico: Luna County, west of Deming, 1500 – 1800 m NN, ex HK 1054, [ZSS AX 17982] nur Pflanzenkörper und Blüte. Paratypus: Frucht, AX. Lateindiagnose: Siehe Echinocereus [preprint], [3]. Blum & al. 1998 (repeated in Blum & al. Echinocereus: 365, 1998). 3. Korrektur eines Holotypus-Zitats: Der Erstautor definiert den Holotypus des Echinocereus salm-dyckianus Scheer subsp. bacanorensis W. Rischer & W. Trocha neu nach den aktuellen Regeln des Artikels 8.2 des ICN 2011. Schon im ICBN 2000 gibt es Änderungen, die es notwendig erscheinen lassen, Echinocereus salm-dyckianus subsp. bacanorensis neu zu bestimmen. Art. 8.2 verbietet es, zu verschiedenen Zeitpunkten von einer einzigen Pflanze entnommenes Material als Typus festzulegen. Aus der Erstbeschreibung des salm-dyckianus subsp. bacanorensis geht jedoch klar und deutlich hervor, dass es sich bei dem Nasspräparat nicht um Aufsammlungen im Feld handelt, sondern um in Kultur gezogenes Pflanzenmaterial. Körper und Blüte des hinterlegten Materials stammen von einer Pflanze, sind also der Holotypus. Die Samenbeere stammt von einem Referenzexemplar, wäre also (nur) ein Paratypus. Deshalb sollte Art. 8.2. hier nicht angewendet werden. Um aber jeder weiteren Diskussion vorzugreifen, wird der Typus von salm-dyckianus subsp. bacanorensis neu definiert: Holotypus: Mexico, Sonora; bei Bacanora, ca. 1050 m NN, [ZSS AX 18239] nur Pflanzenkörper und Blüte. Paratypus: Frucht, AX. Lateindiagnose: Siehe Echinocereenfreund 11(1): 6 (1995) [and Echinocereenfreund 11(2): 31. 1998]. Aktuell gültiger Name: Echinocereus santaritensis W. Blum & J. Rutow subsp. bacanorensis (W. Rischer & W. Trocha) W. Rischer & D. Felix Echinocereenfreund 19(3): 91. 2006. 4. Korrektur eines Holotypus-Zitats: Der Erstautor definiert den Holotypusseines Echinocereus scheeri (Salm-Dyck) Scheer subsp. paridensis W. Rischer neu nach den aktuellen Regeln des Artikels 8.2 des ICN 2011. Schon im ICBN 2000 gibt es Änderungen, die es notwendig erscheinen lassen, Echinocereus scheeri subsp. paridensis neu zu bestimmen. Art. 8.2 verbietet es, zu verschiedenen Zeitpunkten von einer einzigen Pflanze entnommenes Material als Typus festzulegen. Aus der Erstbeschreibung des Echinocereus scheeri subsp. paridensis geht jedoch klar und deutlich hervor, dass es sich bei dem Nasspräparat nicht um Aufsammlungen im Feld handelt, sondern um in Kultur gezogenes Pflanzenmaterial. Körper und Blüte des hinterlegten Materials stammen von einer Pflanze, sind also der Holotypus. Die Samenbeere stammt von einem Referenzexemplar, wäre also (nur) ein Paratypus. Deshalb sollte Art. 8.2. hier nicht angewendet werden. Um aber jeder weiteren Diskussion vorzugreifen, wird der Typus von E. scheeri subsp. paridensis neu definiert: Holotypus: Mexico/ Sinaloa, bei Parida; W. Rischer 1992/312, [ZSS AX 18719] nur Pflanzenkörper und Blüte. Paratypus: Frucht, AX. Lateindiagnose: Siehe Echinocereenfreund 11(3): 58 – 59 (1998). 5. Validierung eines Neotypus: Der Autor definiert seinen Neotypus des Echinocereus scheeri (Salm-Dyck) Scheer neu nach den aktuellen Regeln des Artikels 8.2 des ICN 2011. Schon im ICBN 2000 gibt es Änderungen, die es notwendig erscheinen lassen, Echinocereus scheeri subsp. scheeri neu zu bestimmen. Art. 8.2 verbietet es, zu verschiedenen Zeitpunkten von einer einzigen Pflanze entnommenes Material als Typus festzulegen. Aus der Neotypifizierung des Echinocereus scheeri subsp. scheeri geht jedoch klar und deutlich hervor, dass es sich bei dem Nasspräparat nicht um Aufsammlungen im Feld handelt, sondern um in Kultur gezogenes Pflanzenmaterial. Körper und Blüte des hinterlegten Materials stammen von einer Pflanze, sind also der Neotypus. Art. 8.2. kann hier nicht angewendet werden, da die Beschreibung des Namens zeitlich vor der Erfordernis der Festlegung eines Holotypus erfolgte. Um aber jeder weiteren Diskussion aus dem Wege zu gehen, wird der nomenklatorische Typus von E. scheeri subsp. scheeri neu definiert: Neotypus: Mexico/ Sonora bei Basihuare; W. Rischer s.n. [ZSS AX 16501] nur Pflanzenkörper und Blüte. Literatur: Siehe Echinocereenfreund 18(3): 77 [71 – 80] (1995). Resümee: Leider steht die unterschiedliche Interpretation der Experten zum Begriff des `gathering´ der Stabilität der Nomenklatur bzw. der Validität der nomenklatorischen Typen (insbesondere Holotypen) im Weg. Ob also die Einführung dieses Begriffes in das Reglement des ICBN/ICN dem Grundgedanken des Codes wirklich förderlich war, darf daher diskutiert werden. Vorbeugend werden in diesem Aufsatz daher notwendig erscheinende Schritte zur nomenklatorischen Stabilität in der Gattung Echinocereus geleistet, soweit sie bisher erkannt wurden bzw. absehbar sind. Generell stellen wir die Einführung von Regeln mit Rückwirkung auf bestehende valide Namen und Typen infrage. Aus Sicht der Praktiker möchten wir zumindest anregen, ob nicht zukünftig bei allen Neuerungen im Code auch darauf abgestellt werden könnte, die Produktivkraft der Botaniker nicht „künstlich“ an die Schreibtische zu binden, sondern stärker ins „Feld“ zu lenken! W. Blum* - W. Rischer - M. Lange - J. Rutow [Die Adressen der Autoren sind der Redaktion bekannt.] *korrespondierender Autor: mail@blumwolfgang.de